Kwestia: Zahlensalat mit Cholesterin und Statinen

Am 05.10.2020 wurden die Leitlinien zur Senkung der Cholesterinblutwerte, die 2019 verschärft wurden, in der SRF-Sendung Puls thematisiert und kritisch hinterfragt. Demnach werden vielen Menschen, die bisher als gesund gegolten haben, auch beim Fehlen jeglicher Beschwerden neu prophylaktisch cholesterinsenkende Medikamente (meistens sogenannte Statine) empfohlen. Dies geschieht aufgrund der Annahme, dass tiefe Cholesterinblutwerte (sog. LDL-C) das Risiko für Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems verringern.

In der Puls-Sendung nahm Herr Prof. Dr. med. A. Gallino, der designierte Präsident der Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose, Stellung und rechtfertigte die kürzlich gesenkten Cholesteringrenzwerte (ab min 21:15 der oben erwähnten Sendung) mit einem, seiner Meinung nach „umwerfenden Beweis“: mit jeder Senkung des LDL-C-Spiegels um eine Einheit (=1mmol/L) werde das Risiko eines Herzinfarktes um etwa 20% gesenkt und dies sei eine „Tatsache“. Diese Aussage basierte höchst wahrscheinlich auf einer Analyse von 26 Studien, die bereits 2010 in der Fachzeitschrift Lancet publiziert wurde.

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Man muss eingestehen, dass die Minderung eines Herzinfarktrisikos um 20% im ersten Moment stark beeindruckt. Allerdings wird bei der Durchsicht der Analyse klar, dass der „umwerfende Beweis“ unpräzise zitiert wurde. Die genannte Risikoreduktion bezieht sich nicht nur auf Herzinfarkte sondern auf das Auftreten von allen sogenannten relevanten vaskulären Ereignissen. Darunter werden meistens sowohl Herzinfarkte als auch vaskulär bedingte Todesfälle, Schlaganfälle und koronare Revaskularisationen zusammengefasst. Weiterhin fällt auf, dass die in der Abbildung 2 des Artikels (siehe Bild oben) zusammengeführten Vergleiche sowohl die Wirkung von Statinen gegen Placebo als auch Statinen in hohen Dosen gegen Statine in üblichen Dosierungen betrafen. In der Gruppe der Patienten, die keine Statine bzw. diese in einer üblichen Dosis einnahmen, erlitten 4% ein relevantes vaskuläres Ereignis. Wohingegen in der Gruppe der Patienten, die Statine oder grössere Dosis dieser einnahmen, widerfuhr 3.2% von ihnen ein solches Ereignis. Es handelt sich also um eine Differenz in den Risikoraten von genau 0.8%-Punkten pro eine Einheit weniger Blutcholesterin. Die unten stehende Graphik verdeutlicht den Unterschied zwischen den 4 und 3.2 relevanten vaskulären Ereignissen pro 100 Patienten.

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Hmmm, wo sind also die sowohl in dem Artikel als auch von Prof. Gallino erwähnten 20% geblieben? Nun hier haben die Autoren in die statistische Trickkiste gegriffen. Die absolute Risikodifferenz von 0.8%-Punkten zwischen den zwei Gruppen, wurde in einen relativen Unterschied von 20%, bezogen auf die Ereignisse in der nicht bzw. weniger medikamentös behandelten Gruppe, umgewandelt (0.8 von 4.0 ist 1/5 und entspricht damit 20%). Die relative Risikosenkung um ein Fünftel klingt zugegebenermassen bedeutend überzeugender als die absolute Risikodifferenz von lediglich 0.8%-Punkten, auch wenn es sich hierbei um ein und denselben Befund handelt.

Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass am Ende des oben genannten Artikels die Autoren informiert haben, dass die von ihnen in dieser Arbeit analysierten Studien mehrheitlich von der Pharmaindustrie finanziert worden waren, und auch dass einige der Autoren selbst mit der Pharmaindustrie finanziell verbandelt seien.

Zusätzlich möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die Feststellung einer Risikominderung von x% pro Blutcholesterinsenkung um eine Einheit geäussert mit der gleichzeitigen Forderung einer noch stärkeren Senkung suggeriert, dass eine Blutcholesterinsenkung auf jedes Niveau und ohne sonstige gesundheitliche Risiken erreicht werden kann. Dies wurde, meines Wissens nach, bisher nicht beschrieben. Hinzu kommt natürlich auch noch die Problematik der dann notwendigen Steigerung sowohl der Anzahl der gleichzeitig verabreichten Medikamente als auch die Erhöhung deren Dosierung. Die Wirkungen dieser Medikamente hängen nicht unbedingt linear mit dem angestrebten Cholesterinblutwert zusammen und unterliegen zudem von Patient zu Patient individuellen Schwankungen.

Das oben Beschriebene lässt aus meiner Sicht mindestens folgende Fragen im Raum stehen:
  • Ist der Unterschied von 0.8%-Punkten zwischen den zwei Gruppen ((intensiv) medikamentös behandelt und regulär bzw. nicht medikamentös behandelt) von klinischer Bedeutung?
  • Rechtfertigt dieser Unterschied eine lebenslange (stärkere) Medikation von Patienten und die gleichzeitige Akzeptanz von Nebenwirkungen, die sich mittel- bis langfristig als schwerwiegend erweisen können?
  • Warum kommuniziert man sowohl den Ärzten als auch den Patienten die eher abstrakte und irreführende relative Risikominimierung (hier 20%) statt der konkreten und leichter nachvollziehbaren absoluten Risikodifferenz (hier 0.8%-Punkte)?
  • Könnte in diesem Fall die Befürchtung mitspielen, dass dann sowohl auf der Seite der Ärzte als auch der Patienten die Entscheidung gegen eine medikamentöse Beeinflussung der Blutcholesterinspiegel eine überwältigende Mehrheit finden könnte?
  • Warum werden Ärzte nicht in der Interpretation von Statistiken geschult und damit zur kritischen Beurteilung von Studienergebnissen befähigt, die ihre alltäglichen therapeutischen Entscheidungen beeinflussen?
  • Können von der Pharmaindustrie bezahlte Studien eine glaubwürdige, zuverlässige und faire Grundlage für therapeutische Entscheidungen im Sinne der Patienten bilden?
Um den Blickwinkel auf den oben beschriebenen Sachverhalt zu erweitern, seien mir zum Schluss noch zwei zusätzliche Feststellungen erlaubt: 1. Eine Forschergruppe aus Zürich hat im Mai dieses Jahres eine Arbeit veröffentlicht, die eine zurückhaltende (im Vergleich zu den Empfehlungen der Leitlinien) Verschreibungspraxis der Blutcholesterinsenker in den Allgemein-/ Hausarztpraxen in der Schweiz feststellte. Die Autoren schlossen daraus, dass die Verschreibungspraxis, nicht nur vor dem Hintergrund der 2019 verschärften Leitlinien, einer Überprüfung unterzogen werden sollte. 2. Blutcholesterinsenker gehören weltweit zu den meistverkauften Medikamenten und generieren milliardenhohe Gewinne.